Wissenswertes zum Thema "Selbstverletzendes Verhalten"
Mit selbstverletzendem Verhalten (SVV) oder autoaggressivem Verhalten beschreibt man eine ganze Reihe von Verhaltensweisen, bei denen sich betroffene Menschen absichtlich Verletzungen oder Wunden zufügen. Normalpsychologische Grundlage für diese Störung ist unter anderem das Konzept des Körperschemas.
Selbstverletzendes Verhalten kann auftreten bei: Borderline-Persönlichkeitsstörung (siehe auch Parasuizid), fetalem Alkoholsyndrom, Depressionen, Essstörungen wie Anorexia nervosa, Bulimie oder Adipositas, Missbrauchserfahrungen, Deprivationen (Entzug von Zuwendung und „Nestwärme“), Traumatisierungen, während der Pubertät, Kontrollverlust, Körperschema-Störungen (Body Integrity Identity Disorder), Zwangsstörungen (OCD: Obsessive-Compulsive Disorder), schweren Zurücksetzungen und Demütigungen, psychotischen oder schizophrenen Schüben und ähnlichen seelischen Störungen sowie bei geistiger Behinderung und Autismus.
Obgleich Selbstverletzung in der Regel keinen suizidalen Aspekt hat, im Gegenteil sogar durch Spannungs-, Wut- und Selbsthass-Abfuhr einen Suizid zu vermeiden und aufzuschieben trachtet, können die zu Grunde liegenden Depressionen, Persönlichkeitsstörungen, Dissoziationsphänomene, unerträglichen Spannungszustände, Nervenschwächen und Nervenerregungen, todestriebähnlichen Selbstzerstörungswünsche und etwaigen Suchtabhängigkeiten auf die Dauer zu Suizidalität führen und enden in einigen Fällen letztlich im Suizid.
Es gibt verschiedene Arten der Selbstverletzung; häufig werden mehrere von einer Person angewandt. Zu den häufigsten zählen
Es ist umstritten, ob bei der Verletzung des eigenen Körpers Endorphine (Glückshormone) ausgeschüttet werden, die den Schmerz lindern, wie es bei körperlicher Anstrengung oder auch einer Geburt der Fall ist. Diese werden in Verbindung mit Adrenalin ausgeschüttet, da der Körper durch die Selbstverletzungen in eine starke Form des Stresses versetzt wird.
Es steht fest, dass eine Gewöhnung stattfindet, die extremere Selbstverletzungen nach sich zieht (tiefere Schnitte, großflächigere Verbrennungen), um die gesuchte Befriedigung zu erreichen.
Nicht immer allerdings werden Endorphine oder Adrenalin ausgeschüttet; bei „Beißern” tritt nicht die Form des Stresses auf, sondern genau das Gegenteil: Der Betroffene steht unter Druck. Besonders durch das Beißen im Mundinneren wird Stress, enormer Druck, abgebaut. Wie bei anderen Verletzungen auch werden die Wunden immer größer bzw. tiefer, um den (wiederum durch das Beißen provozierten und gesteigerten) Druck abbauen zu können. Überdies ist therapeutisch nicht eindeutig erwiesen, ob es sich bei autoaggressivem Verhalten um eine Art Selbstbelohnungs- oder Selbstbestrafungstrieb handelt.
Bei einer Multiple-Choice-Studie auf einer Homepage, die sich mit dem Thema befasst, wurde festgestellt, dass sich viele Menschen mit selbstverletzendem Verhalten nicht auf eine Art der Selbstverletzung beschränken, sondern auch diverse Methoden kombinieren:
Schneiden (Ritzen) wurde mit einer Häufigkeit von 72 % angegeben, 35 % verbrannten sich, 30 % schlugen sich selbst, 22 % verhinderten die Wundheilung von Verletzungen, 22 % kratzten verschiedene Körperpartien mit den Fingernägeln auf, 10 % gaben an, sich die Haare auszureißen und 8 % brachen sich vorsätzlich Knochen oder verletzten ihre Gelenke.
Folgende statistische Angaben sind unter Vorbehalt zu betrachten, da sie teils nur Schätzungen sind und/oder sich auf spezifische Gruppen beziehen und daher keine statistisch abgesicherten Ergebnisse liefern. Jedoch geben sie ausgeprägte und deutliche Tendenzen wieder.
Die Häufigkeit in Deutschland wird mit 0,7 % bis 1,5 % angegeben, was einer Anzahl von rund 600.000 bis 1,2 Millionen Menschen entspricht. Überwiegend weibliche Personen sind von SVV betroffen, die Angaben schwanken hier jedoch stark und werden mit 3:1 (Frauen:Männer) bis 9:1 (Frauen:Männer) angegeben.
Mehrheitlich liegt der Beginn der Erkrankung zwischen dem 12. und dem 15. Lebensjahr, das am häufigsten genannte Alter ist 13. In der Zeit der Pubertät ist also meistens der Auslöser zu suchen, das Verhalten tritt meist während der ohnehin emotional in der Regel sehr angespannten Phase der Pubertät (verlorene Liebe, Aggression gegen Eltern, etc.) auf. Die Ursachen bzw. Gründe werden meistens dagegen davor in der Kindheit gesucht. Demnach würden Konflikte, die dort nicht ausgetragen werden konnten, nun hervorbrechen und würden demzufolge zum Auftreten des Selbstverletzenden Verhaltens führen.
Ein anderer Aspekt ist die Frage, ab welchem Alter aktiv nach autodidaktischer, ärztlicher und/oder psychologischer Hilfe gesucht wird. Aus fortlaufender Erhebung auf der Internetseite „Rote Tränen“ergibt sich etwa folgende Struktur direkt oder indirekt Betroffener, die die Bewältigung versuchen oder sich mit Alternativen beschäftigen:
Angaben zum Aufschneiden der Haut entfiel zu 85 % Prozent auf Extremitäten und 15 % auf den Rumpf.
Selbstverletzendes Verhalten bedarf keiner objektiv „schlimmen“ Situation, sondern kann von psychischen Erkrankungen ausgelöst werden, die unabhängig von den objektiven Zuständen vorkommen können. Eine häufig spontane, zynische Reaktion - „Anderen geht es noch viel schlimmer“ - verkennt gerade den Krankheitswert dieser Störung, und geht implizit von der irrational anmutenden Konsequenz aus, dass Menschen in schlimmen Umständen zur Selbstverletzung neigten.
Während nur Fachpersonal die zugrundeliegenden Störungen kompetent therapieren kann, kann das familiäre und soziale Umfeld durch Vermeidung der Distanzierung und durch Sozialisierung in Krisensituationen zur Besserung der Symptomatik beitragen. Alle Versuche, die Symptomatik zum Gegenstand einer Diskussion zu machen, sind aufgrund des Krankheitswerts kontraproduktiv.
Autoaggressive Personen haben die Möglichkeit einer Psychotherapie. Je früher mit der Therapie begonnen wird, desto größer sind die Chancen einer Heilung.
Zur Behandlung stehen unterschiedliche Therapiekonzepte zur Verfügung. Sowohl tiefenpsychologisch- psychoanalytische als auch verhaltenstherapeutische.
Die Transference-Focused-Psychotherapy (TFP) nach Otto F. Kernberg konzentriert sich hierbei auf die Übertragung und Gegenübertragung, wobei hier aber ein besonderes Augenmerk auf die aktuelle Situation und die aktuellen Konflikte eines Patienten gelegt wird. Auch ist die TFP in Abgrenzung zu anderen Formen der psychoanalytisch begründeten Psychotherapie etwa der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie nicht ausschließlich auf stützende Techniken angewiesen, auch wenn diese je nach psychosozialer Situation und Verfassung des Patienten auch eingesetzt werden.
Ein Therapiekonzept, welches sich u.a. mit Leidensdruck und dem daraus resultierenden Problemverhalten (also auch Selbstverletzung) beschäftigt, ist die Dialektisch-behaviorale Therapie nach Marsha M. Linehan. Diese auf das Krankheitsbild der Borderline-Persönlichkeitsstörung ausgerichtete Therapie unterscheidet zwischen Bewältigungsstrategien bei Leidensdruck (zum Beispiel durch Ablenkung oder bewusster Wahrnehmung) und Alternativen zu körperschädigendem Verhalten, so genannten Skills. Beispiele für Skills sind das Festhalten von Eiswürfeln, Kauen von Chilischoten oder Barfußlaufen im Schnee. Im klinischen Umfeld wird das Auftragen einer speziellen stark reizenden Salbe auf die Unterarme des Patienten als Reaktion auf einen akut auftretenden hohen Selbstverletzungsdruck praktiziert.
Quelle: www.wikipedia.de
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